Aktuelle europapolitische Themen mit Gaby Bischoff (MdEP)

Nach einem Jahr politischer Erfahrung in Brüssel berichtete Gaby Bischoff nun über ihre europapolitischen Schwerpunkte und die aktuellen Entwicklungen. Es war eine intensive Zeit, es ist viel passiert in acht Monaten „normaler“ Abgeordneten-Tätigkeit und erst recht danach, als Corona auch die Arbeit des Europäischen Parlaments auf den Kopf stellte. Zunächst galt es, die Präsidentin und die Mitglieder der Europäischen Kommission zu wählen. Bei der Besetzung der Ausschüsse lief es wie gewünscht: Als Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und Soziales, als erste stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für konstitutionelle Fragen und als stellvertretendes Mitglied im Wirtschaftsausschuss kann Gaby Bischoff ihren sozialpolitischen Schwerpunkt „Beschäftigung“ an wichtigen Stellen mitgestalten. Das Europäische Parlament will eine länderübergreifende Regelung zur Verbesserung der Lohn- und Rentenansprüche und der Sozialversicherung, um die Rechte der grenzüberschreitenden Pendler zu stärken. Die Corona-Krise hat die Missstände zum Beispiel in der Fleischindustrie wie unter dem Brennglas gezeigt. Trotzdem blockieren die Regierungen der Mitgliedsstaaten noch immer die dringend erforderlichen Verbesserungen des Arbeitsschutzes; in den schwierigen Verhandlungen mit dem Europäischen Rat ist Gaby Bischoff die Verhandlungsführerin des Europäischen Parlaments.

Auf den Corona-Schock gab es erst einmal nationale Reaktionen: Auch in Deutschland wurden bestellte und bezahlte medizinische Güter anfänglich nicht nach Italien geliefert, sondern für den dringlichen Bedarf im eigenen Land zurückgehalten. Schnell wurde klar, dass es einen europäischen Rahmen braucht, um bestimmte Medikamente und Schutzausrüstungen in Europa zu produzieren und dann auch bedarfsgerecht zu verteilen. Jetzt zeigt sich: Diese Krise ist wirtschaftlich und sozial weitaus größer als die Währungskrise von 2008; nationale Programme allein reichen nicht aus, um sie zu bewältigen. Europäische Hilfsprogramme werden aufgelegt, auch der „Just Transition Fonds“ für die Klimapolitik greift mit für die Krisenbewältigung. Die Europäische Gemeinschaft wird dafür eigene Mittel auf den Finanzmärkten akquirieren. Noch ist der Wiederaufbau-Fonds allerdings nicht beschlossen, und auch die Soforthilfe-Programme funktionieren noch immer nicht. Die Zeit wird knapp, die neue Rolle Europas bei der Krisenbewältigung zu bestimmen und auszufüllen.

Corona hat die Arbeit des Europäischen Parlaments stark verändert und auch beeinträchtigt. Im März wurde das Haus für alle Besucherinnen und Besucher geschlossen. Nur wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in den Büros präsent. Und für viele Abgeordnete wurde die Anreise nach Brüssel schwierig oder auch völlig unmöglich. Diskussionen und vor allem Abstimmungen sind unter diesen Umständen schwierig, unter hohem Zeitdruck wird an der Anpassung der Geschäftsordnung gearbeitet.

Ein wichtiger Punkt in der Diskussion ist die Frage, wie Krisenbewältigung und der europäische „Green Deal“ zusammenpassen? Der „Green Deal“ ist keineswegs tot, im Gegenteil: mindestens 30 Prozent der Strukturmittel sind klimapolitisch ausgerichtet. Der Just Transition Fonds zielt auf die sozialen Folgen des Kohleausstiegs; die Digitalisierung wird eine ähnliche arbeitsmarktpolitische Herausforderung bringen. Ein europäischer „Fonds für strategische Investitionen“ soll helfen, diese Herausforderung zu bewältigen. Auch das europäische Klimagesetz wird weiter vorangetrieben.

Mit der aktuellen mehrjährigen Finanzplanung betritt die E.U. finanzpolitisches Neuland: „Green Deal“ und Aufbauprogramm werden mit dieser Finanzplanung verkoppelt, und der Anteil der Eigenmittel soll erhöht werden, die nicht aus den Haushalten der Mitgliedsländern, sondern aus eigenen Einnahmen der E.U. stammen (zum Beispiel aus einer künftigen Digital-Steuer). Um diesen neuen europäischen Weg zu gehen, braucht es die Unterstützung der Mitgliedsländer. Nicht nur die Regierungen der „sparsamen Vier“ müssen überzeugt werden, sondern auch die nationalen Parlamente müssen einigen der geplanten Maßnahmen zustimmen. Es ist wichtig, sie frühzeitig einzubeziehen, denn Nationalisten und Populisten werden die Gelegenheit nutzen, um möglichst Sand ins Getriebe zu streuen. Bis das Geld fließt, wird der gesamte Prozess zwei Jahre oder länger brauchen. Wichtig ist die Koppelung von Strukturfonds und „Green Deal“ an den mehrjährigen Finanzplan der Europäischen Gemeinschaft, denn an diesem sind alle Mitgliedsländer in der einen oder anderen Weise interessiert. Das Verfahren ermöglicht erpresserischen Druck von der einen oder anderen Seite, aber steht letztlich auch unter dem Zwang, zu einer Einigung zu kommen. Die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament will zum Beispiel die Strukturmittel an die Rechtsstaatlichkeit binden: Das wird sicher Kontroversen auslösen, und der Ausgang ist offen. Es wird die Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft sein, in diesen Fragen zu einer Einigung zu kommen.

Prognosen mit Prozentzahlen über den coronabedingten Rückgang der Wirtschaftsleistung oder den Zusammenbruch von Unternehmen gibt es im Europäischen Parlament nicht. Erkennbar ist aber, dass in bestimmten wirtschaftlichen Sektoren wie Tourismus oder Zulieferbetriebe für die Autoindustrie besonders schwer getroffen werden. Um solche Unternehmen über die Krise hinweg zu retten, hat die E.U. erstmals direkte Beihilfen für Unternehmen ermöglicht, die bisher nach dem Wettbewerbsrecht untersagt waren. Diese Entscheidung ist wettbewerbsrechtlich tatsächlich schwierig: So konzentrieren sich 60 Prozent der Beihilfen auf Deutschland, wodurch die wirtschaftliche Vormachtstellung dieses Landes weiter verstärkt wird. Diese kurzfristigen Programme müssen sicher noch angepasst werden.

Ein europäischer Rahmen für Mindestlohn und Arbeitslosenversicherung, das sind Herzensprojekte für Gaby Bischoff. Beim Thema Mindestlohn ist die drohende Verschiebung vom Tisch: Die Kommission wird unmittelbar nach Abschluss des Konsultationsprozesses einen entsprechenden Vorschlag vorlegen. Dieses Thema gehört zu den Schwerpunkten der deutschen Ratspräsidentschaft, auch wenn es zwischen SPD und CDU umstritten war (während es beim Thema Grundsicherung noch keine solche Verständigung gibt). Die europäische Arbeitslosenversicherung ist durch das Kurzarbeitergeld keineswegs erledigt und bleibt für die sozialdemokratische Fraktion auf der Tagesordnung. Das gilt besonders mit Blick auf junge Menschen, deren Arbeitsverträge in vielen Mitgliedsländern extrem kurz befristet sind, und die daher keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben. Die europäische „Jugend-Garantie“, die jedem jungen Menschen entweder einen Arbeitsplatz oder ein schulisches Angebot zusichert, soll als Instrument gegen die Jugendarbeitslosigkeit weiterentwickelt werden; die Verteilung der Mittel orientiert sich am strukturellen Bedarf und an den kurzfristigen Auswirkungen von Corona in den jeweiligen Mitgliedsländern.

Das europäische Behindertenparlament konnte coronabedingt nicht wie geplant zusammenkommen. Menschen mit Beeinträchtigungen fallen dennoch nicht unter den Tisch. Konkrete Projekte werden gerade verhandelt, etwa die Einführung eines europaweiten Ausweises. Entwickelt werden soll auch in diesem Bereich ein mehrjährige europäische Strategie, die mit entsprechenden Programm-Mitteln unterlegt wird. — Es gibt im Europäischen Parlament durchaus auch Abgeordnete, die mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen leben und arbeiten.

Das Dublin-Abkommen soll durch eine neue europäische Strategie für Asyl und Migration ersetzt werden. Das Europäische Parlament hat längst entsprechende Vorschläge gemacht, aber zwischen den Mitgliedsstaaten gibt es sehr große Differenzen, die den Europäischen Rat in dieser Frage seit Jahren blockieren. Die „Visegrad-Staaten“ weigern sich unterdessen, geltendes europäisches Recht umzusetzen. Das bei solchen Verstößen mögliche Sanktionsverfahren (Mahnung – Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof – Strafzahlungen) wird aus politischen Gründen nicht angewandt. Der Europäische Rat setzt in dieser Frage auf Einstimmigkeit und nimmt die Selbst-Blockade in Kauf. Improvisierte Behelfslösungen können auf Dauer nicht funktionieren – etwa im Fall eines Corona-Ausbruchs in Lagern in Griechenland. In Sachen Asyl und Migration sind die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft eher verhalten. Unser Innenminister, der diesen Prozess moderieren wird, hat eigene Vorstellungen von der Abschottung der E.U.-Außengrenzen. Die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament agiert in dieser Frage recht geschlossen; soweit die sozialdemokratischen Parteien einzelner Länder von nationalistischen Strömungen beeinflusst sind, unterwerfen sie sich doch dem Mehrheitswillen. Die entsprechenden Mechanismen funktionieren in der sozialdemokratischen Funktion allgemein besser als in vielen anderen Fraktionen des Europäischen Parlaments.

Insgesamt hat Gaby Bischoff hohe Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft: Deutschland ist ein erfahrener Moderator und ein sozialpolitischer Vorreiter, zum Beispiel beim Mindestlohn. Mit der Konferenz für die Zukunft Europas liegt ein ambitioniertes Projekt zur strukturellen Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft vor. Auch hier agiert der Europäische Rat sehr zögerlich, mit Michael Roth als Verhandlungsführer kann Deutschland dieses Vorhaben beschleunigen. Viele Menschen wollen mehr Europa und sind enttäuscht über das langsame Tempo – die deutsche Ratspräsidentschaft ist da eine Riesen-Chance!

Thomas Koch

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