Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine…
Wahlrechtsreform und Verkleinerung des Bundestages
Versammlung der Abteilungen Hermsdorf und Lübars-Wittenau-Waidmannslust am 27.9.2022
Ein gutes Referat von Samuel Märkt, wissenschaftlicher Mitarbeiter der hessischen Bundestagsabgeordneten Esther Dilcher, und eine spannende Diskussion zu einer komplexen politischen Herausforderung: Die gemeinsame Abteilungsversammlung in großer Runde – auch Gäste aus Reinickendorf-Ost konnten wir begrüßen – war ein voller Erfolg! Die Verkleinerung des Bundestags von jetzt 736 auf die Regelgröße von 598 Abgeordneten ist nicht aus Kostengründen so wichtig, auch wenn Boulevard-Medien wie die Bild-Zeitung immer wieder versuchen, die angeblich zu hohen Kosten zu skandalisieren und eine „Wir hier unten – ihr da oben“ – Stimmung zu schüren. Die große Zahl von Überhangs- und Ausgleichsmandaten gefährdet vielmehr die Funktions- und Arbeitsfähigkeit unseres Parlaments. Der Einfluss der einzelnen Abgeordneten wird geringer, die Redezeiten kürzer, die Zahl der Arbeitsgruppen wird größer, der Aufwand für Absprachen und Koordination wächst, immer wieder kommt es zu Terminkollisionen. Diese Verkleinerung des Wirkungskreises der einzelnen Abgeordneten ist ein ernsthaftes Problem von verfassungsrechtlichem Rang.
Wenn eine Partei eine größere Zahl von Direktmandaten (relative Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis, „Erst-Stimmen“) gewinnt als es ihrem Gesamtstimmenanteil entspricht, entstehen Überhang-Mandate. Über die Stärke der Parteien im Bundestag bestimmen aber die für die jeweiligen Landeslisten insgesamt abgegebenen Stimmen („Zweit-Stimmen“). Benachteiligt durch diese Überhang-Mandate werden Parteien, die nur wenige Wahlkreise gewinnen, denn sie erhalten möglicherweise weniger Mandate, als ihnen nach ihrem Anteil an den Zweit-Stimmen zustehen. 2013 wurden nach einem entsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgericht deswegen Ausgleichsmandate eingeführt, die diese Benachteiligung korrigieren, aber eben auch für ein weiteres Anwachsen des Parlaments sorgen – Tendenz weiter steigend. „Personalisiertes Verhältniswahlrecht“ heißt diese Mischform von Direktmandaten für Wahlkreisbewerber*innen und der Verhältniswahl mit Parteilisten – wobei die Verhältniswahl der Kern unseres Wahlrechts ist.
Eine Verkleinerung des Bundestags ist also nötig, aber nicht einfach zu realisieren. Problematisch ist sicherlich, dass die Betroffenen – also die Abgeordneten – über die Verkleinerung entscheiden sollen, und damit möglicherweise über die Abschaffung des eigenen Platzes im Parlament. Deswegen wurde eine Wahlrechtskommission aus dreizehn Abgeordneten und dreizehn Sachverständigen gebildet, die sich bemüht, eine Lösung jenseits von kurzfristigen Parteiinteressen zu finden. Außerdem hat der Bundestag zeitgleich mit der Einsetzung der Kommission auch beschlossen, die Zahl der Wahlkreis ab 2024 von 299 auf 280 zu reduzieren, um den weiteren Aufwuchs des Parlaments zu verlangsamen. Bisher allerdings ist es der Kommission nicht gelungen, sich auf ein Modell zu verständigen. Die Union favorisiert ein „echtes Zwei-Stimmen-Modell“, in dem die Direktmandate unabhängig von den Zweitstimmen-Ergebnissen vergeben werden. Der Einwand liegt auf der Hand, das damit das Verhältniswahlrecht geschwächt wird und unser Wahlsystem sich hin zum Mehrheitswahlrecht entwickeln würde. In unserer Abteilungsversammlung waren wir uns alle einig: Nur wer die Mehrheit der Wähler*innen hinter sich hat, soll im Bundestag die Mehrheit der Stimmen haben – und das geht nur über die Listenwahl und die Zweit-Stimmen. Die Reduzierung der Zahl der Wahlkreise fanden viele an diesem Abend einen sinnvollen Schritt. Größere Wahlkreise werfen aber neue Probleme auf und können leicht zu Ungerechtigkeiten führen. Deswegen schlagen die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP ein völlig neues Modell vor: Die Listenstimme (bisher: Zweitstimme) entscheidet über den Parteiproporz im Bundestag, die Personenstimme (bisher: Erststimme) über die personelle Zusammensetzung. Das Grundprinzip des personalisierten Verhältniswahlrechts wird also nicht aufgegeben, sondern weiterentwickelt. Wahlkreismandate werden nur dann zugeteilt, wenn der Stimmenanteil der jeweiligen Partei dafür ausreicht. Es ist also möglich, dass die Wahlbewerberin oder der Wahlbewerber mit den meisten Stimmen im Wahlkreis dennoch nicht in den Bundestag einzieht. Für diesen Fall können die Wähler*innen mit einer Dritt- oder Ersatz-Stimme entscheiden, welche*r Bewerber*in dann den Wahlkreis vertreten soll. Überhang-Mandate können so jedoch nicht entstehen, und damit sind auch Ausgleichs-Mandate überflüssig.
Mit diesem Verfahren wird die gesetzliche Größe des Bundestags dauerhaft und sicher eingehalten, wobei die bereits beschlossene Reduzierung der Zahl der Wahlkreise nicht erforderlich ist und rückgängig gemacht werden kann. Alle Wahlkreise sind im Bundestag vertreten. Auch der Proporz zwischen den Bundesländern wird gewahrt – derzeit haben Länder, in denen es Überhang-Mandate gibt, mehr Abgeordnete als ihnen eigentlich zustehen. Gut möglich, dass der Bundestag mit der Mehrheit ein solches Wahlgesetz beschließt – eine Änderung des Grundgesetzes ist dabei nicht erforderlich. In unserer Diskussion waren jedoch nicht alle von dem neuen Wahlsystem überzeugt: Zu kompliziert und schwer zu vermitteln scheint insbesondere die Dritt-Stimme – auch wenn in Ländern wie Frankreich ähnliches seit langem praktiziert wird, allerdings in einem getrennten zweiten Wahlgang.
Thomas Koch
Einzelheiten zur Wahlrechtsreform finden sich hier:
https://www.bundestag.de/ausschuesse/weitere_gremien/kommission-wahlrecht