Gustav Horn: Kluft zwischen Arm und Reich schadet der wirtschaftlichen Entwicklung

Aachen/Düsseldorf. Deutschland wird immer ungleicher. Der Reichtum der Reichen nimmt zu, gleichzeitig steigt die Zahl der von Armut bedrohten Menschen. Welche Folgen hat das langfristig für die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Deutschland? Was kann gegen die Spaltung der Gesellschaft getan werden?

Der deutschen Wirtschaft geht es gut. Doch sie hat auch deutliche Schattenseiten. Laut des Wirtschaftswissenschaftlers Gustav Horn wird viel zu wenig investiert. Zudem würden die Früchte der Produktivität einseitig verteilt. Langfristig schade das der Wirtschaft. Foto: dpa
Unser Redakteur Joachim Zinsen sprach mit Gustav Horn. Seit 2005 leitet der Wirtschaftswissenschaftler das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

Herr Horn, Sie haben Deutschland einmal das „Mutterland der Ungleichheit“ genannt. Hat sich die Schere zwischen Arm und Reich hier tatsächlich weiter geöffnet als beispielsweise in den USA?

Horn: Nein, aber zum Zeitpunkt meiner Feststellung vor sechs Jahren war die Geschwindigkeit, mit der sich die Schere öffnete, höher als in den USA. Tendenziell hat sich in Deutschland die Ungleichheit sehr stark ausgeweitet. Das ist besorgniserregend.

Dabei rühmte sich die Bundesrepublik jahrzehntelang für ihren „rheinischen Kapitalismus“, der einen Ausgleich zwischen Kapital- und Arbeitnehmerinteressen sucht.

Horn: Bis zum Ende der 90er Jahre war das auch korrekt. Aber seither konnten auf dem Arbeitsmarkt keine hohen Lohnsteigerungen mehr durchgesetzt werden. Gleichzeitig begann eine Steuerpolitik, die vor allem große Einkommen und Vermögen entlastet. In der Folge ist die Ungleichheit stark gestiegen.

Es gibt Wirtschaftswissenschaftler, die behaupten, je größer die Ungleichheit in einem Land ist, desto stärker ist dort auch das Wirtschaftswachstum. Stimmt das?

Horn: Lange Zeit war diese Theorie sicherlich die Standardmeinung der meisten Ökonomen. Neuere Untersuchungen, beispielsweise vom Internationalen Währungsfonds, belegen aber, dass Gleichheit und wirtschaftliche Dynamik keineswegs in einem Konflikt zueinander stehen. Vielmehr gilt das Gegenteil: Wenn die Ungleichheit zu groß wird, lässt die wirtschaftliche Dynamik nach.

Warum?

Horn: Gleich aus mehreren Gründen. Erstens: Eine Wirtschaft mit hoher Ungleichheit nutzt die Spielräume der Binnenkonjunktur nicht aus, weil der Konsum breiter Bevölkerungsschichten schwach ist und deshalb Investitionen ausbleiben. Zweitens: In Gesellschaften mit großer Ungleichheit sinkt häufig die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen wirtschaftlich aufsteigen können. Deshalb strengen sich diese auch weniger an, was wiederum die wirtschaftliche Dynamik schwächt.

Drittens: Wenn sich Vermögen und Einkommen sehr stark bei einem kleinen Teil der Bevölkerung konzentrieren, wandert immer mehr Geld in Finanzanlagen. Dabei geht diese Schicht immer höhere Risiken ein. Auf Dauer werden dadurch die Finanzmärkte destabilisiert.

Welche politischen Folgen hat große Ungleichheit für eine Gesellschaft?

Horn: Studien zeigen, dass sich Hochvermögende mit ihren politischen Ansichten deutlich leichter durchsetzen können als andere. Eine kleine Schicht der Bevölkerung wird also tendenziell immer stärker bevorzugt. Im Gegenzug entfernen sich viele Menschen vom politischen Prozess, weil sie den Eindruck haben, kaum Einfluss auf Entscheidungen nehmen zu können. Gerade diejenigen, die in der Einkommensverteilung weit unten stehen, beteiligen sich deshalb auch nur noch unterdurchschnittlich an Wahlen. Sie nehmen ihre Interessen einfach nicht mehr wahr. Das ist auch in Deutschland zu beobachten.

Der deutschen Wirtschaft geht es hingegen gut.

Horn: Ja, seit der Finanzmarktkrise ist die deutsche Wirtschaft international sicherlich in der Spitzengruppe anzusiedeln. Es gibt eine hohe Wertschöpfung, aber deren Früchte werden sehr ungleich verteilt.

Ist das die einzige Schwäche der deutschen Wirtschaft?

Horn: Nein, es gibt auch eine ausgesprochene Investitionsschwäche. Nicht nur der Staat hat in den vergangenen Jahren viel zu wenig Geld in die Infrastruktur gesteckt. Auch die privaten Investitionen sind, gemessen an der guten Konjunkturlage, ausgesprochen schwach. Das hat natürlich Konsequenzen. Wir beobachten bereits, dass sich die Produktivität, also die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, schlecht entwickelt. Dadurch mindern sich unsere Wohlstandsaussichten.

Trotz guter Konjunktur gibt es kaum reale Lohnerhöhungen für Angestellte und Arbeiter.

Horn: Moment, in der jüngsten Vergangenheit sind die Reallöhne aufgrund der niedrigen Inflationsrate sehr wohl gestiegen. Aber eines stimmt natürlich: Nimmt man das Lohnniveau der 90er Jahre als Ausgangsbasis, dann sind die Realeinkommen der Beschäftigten vor allem in den unteren Lohngruppen zu einem großen Teil sogar niedriger.

Woran liegt das?

Horn: Durch die Arbeitsmarktreformen ist sowohl die Position der Beschäftigten, als auch die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht bei der Lohnfindung deutlich geschwächt worden.

Derzeit wird jedoch häufig über einen immensen Fachkräftemangel geklagt. In der Theorie müssten allein deshalb schon die Löhne steigen.

Horn: In einigen spezialisierten Berufsgruppen ist das sicherlich auch der Fall. Doch in der Breite gibt es keine größeren Lohnsteigerungen. Deshalb kann der Fachkräftemangel auch gar nicht so immens sein. Gäbe es ihn, würden in der Tat die Arbeitgeber mit höheren Löhnen um die knappen Fachkräfte werben.

Was muss denn politisch geschehen, damit Arbeitnehmer wieder mehr Geld in der Tasche haben?

Horn: Wir brauchen Arbeitsmarktreformen, die die Verhandlungsmacht der Beschäftigten wieder steigern. Deshalb sollte die Leiharbeit eingegrenzt werden. Gleichzeitig müssen Tarifverträge wieder einfacher und schneller als allgemeinverbindlich erklärt werden können. Die Politik sollten es Unternehmen nicht länger so leicht machen, Tarifabschlüsse zu unterlaufen.

Was schlagen Sie vor, um die gewaltigen Vermögensunterschiede in Deutschland abzubauen?

Horn: Neben kräftigeren Lohnerhöhungen in den unteren und mittleren Gruppen sind vor allem Reformen an unserem Steuersystem nötig. Bei der Einkommenssteuer sollten die Gering- und Normalverdiener entlastet, Spitzenverdiener hingegen stärker belastet werden. Insbesondere brauchen wir aber eine höhere Erbschaftssteuer und eine Vermögensteuer.

Kann auch die Bildungspolitik zum Abbau der Ungleichheit beitragen?

Horn: Selbstverständlich. Die frühkindliche Bildung muss deutlich stärker gefördert werden. Wir brauchen eine große Bildungsoffensive für alle Kindergartenkinder und Kinder im Grundschulalter. Das eröffnet ihnen spätere Aufstiegschancen.

Von den Kindern zu den Senioren: Die Absage von Kanzlerkandidat Martin Schulz und Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Rente mit 70 hat einige Ihrer Kollegen auf den Plan gerufen. Sie fordern eine Ausweitung der Lebensarbeitszeit. Sie auch?

Horn: Frau Merkel und Herr Schulz sind offenbar schlauer als manche meiner Kollegen. Ein Renteneintrittsalter mit 70 Jahren würde nur die Altersarmut deutlich erhöhen. Viele Menschen können allein schon aus gesundheitlichen Gründen nicht so lange arbeiten. Würden sie vorher in den Ruhestand gehen, müssten sie weitere Abschläge an ihrer Rente in Kauf nehmen und hätten keine Chance auf eine auskömmliche Altersversorgung.

Ist das Ende der großen Ungleichheit am 24. September eigentlich wählbar?

Horn: Schwer zu sagen. Alle Parteien haben Vorschläge zur Einkommenssteuer gemacht. Unterschiedlich stark gehen sie meist auch in die Richtung, Schwächere zu entlasten und Vermögende stärker zu belasten. Doch die Vorschläge reichen bei Weitem nicht aus, um die derzeitigen Verhältnisse grundlegend zu ändern.

© Aachener Zeitung 10.09.2017
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