Das Berliner Mobilitätsgesetz und seine Auswirkungen auf Reinickendorf
„Die Verkehrswende beginnt in den Außenbezirken!“ Hier entscheidet sich, ob die ehrgeizigen Ziele des Berliner Mobilitätsgesetzes erreicht werden können. Zum Auftakt einer Veranstaltungsreihe zu Verkehr und Mobilität im Bürgerbüro von Sven Meyer MdA stellte Horst Mentz, Lehrbeauftragter für nachhaltige städtische Mobilität und ehemaliger Leiter der Verkehrsplanungsabteilung München sowie Stellv. Vorsitzender des Fachausschusses Mobilität, die verkehrspolitischen Herausforderungen für unseren Bezirk und die Handlungskonzepte vor, die das Mobilitätsgesetz und die daraus abgeleiteten Verkehrspläne vorgeben. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage, welche verkehrspolitischen Aufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten sich daraus für unseren Bezirk ergeben – eine Diskussion, die an weiteren Arbeiten zu den verschiedenen Themenfeldern vertieft werden wird.
Die grundlegenden Herausforderungen sind klar: Berlin wächst überdurchschnittlich: Bis 2030 werden 4 Millionen Einwohner erwartet. Der Mangel an Wohnraum führt zu Gentrifizierung und zu Spaltung statt Mischung der Gesellschaft. Eine regionale Siedlungs- und Verkehrsplanung über die Stadtgrenzen hinaus ist zwingend erforderlich. Die Gesellschaft altert: Die demographische Entwicklung verlangt barrierefreie Mobilität. Die Digitalisierung muss vorangetrieben werden: Neue Mobilitätskonzepte brauchen eine smarte Infrastruktur (die „intelligente Laterne“ lädt die Batterien von Fahrzeugen, überwacht den Parkraum und unterstützt das autonome Fahren). Und nicht zuletzt muss der immer noch steigende CO-2 – Ausstoß im Verkehrsbereich gebremst und umgekehrt werden. Berlin ist eine polyzentrische Stadt mit kurzen Wegen. Die Stadt ist verhältnismäßig gering motorisiert: 43% der Haushalte sind ohne eigenes Auto. Aber 300.000 Menschen pendeln zur Arbeit in die Stadt hinein, und weitere 175.000 aus der Stadt heraus – wobei zwei Drittel dieser Wege mit dem Auto zurückgelegt werden. Besonders was den ÖPNV angeht, haben West- und Ost-Berlin sich unterschiedlich entwickelt.
Der Anteil der mit dem Fahrrad zurückgelegten Wege ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und lag 2018 bei 18%, während der motorisierte Individualverkehr rückläufig ist (26% in 2018); 30% der Wege werden zu Fuß zurückgelegt, und 27% mit Bus oder Bahn – wobei die jeweils zurückgelegten Wegstrecken unterschiedlich lang sind. Der Radverkehr wächst besonders in der Innenstadt mit den dort gut ausgebauten Radwegen; in Reinickendorf lag der Anteil nur bei 12%. Auch der Anteil der Haushalte ohne eigenen PKW ist in der Innenstadt mit dem dort dichten Nahverkehrsnetz deutlich geringer als in den Außenbezirken.
Als erstes Bundesland hat Berlin 2018 ein Mobilitätsgesetz auf den Weg gebracht. Vier von sechs vorgesehenen Bausteinen liegen inzwischen vor: Neben einem allgemeinen Teil sind dies die Bereiche Öffentlicher Personen-Nahverkehr, Radverkehr und Fußverkehr; Wirtschaftsverkehr und digitale Mobilität stehen noch aus. Die Teilbereiche sind jeweils mit einem eigenen Planungswerk unterfüttert, das laufend fortgeschrieben wird:
- Der Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr Berlin 2030 (Stand: März 2021) sieht vor, den Anteil des Umweltverbundes (Fuß- und Radverkehr sowie ÖPNV) auf 82% zu steigern, womit der motorisierte Individualverkehr auf 18% abgesenkt wird.
- Der Nahverkehrsplan 2019-2023 (Stand: Februar 2019) legt Qualitätsstandards wie Taktzeiten oder Haltestellen-Abstände fest. Von den Ausbau-Vorhaben im Nahverkehrsnetz sind für Reinickendorf wichtig die Verlängerung der Straßenbahn von der Turmstraße über den ehemaligen Flughafen Tegel nach Spandau und der Anschluss des Flughafengeländes an die U-Bahnlinie 6. Das Konzept i 2030 für den Schienenverkehr in der Region sieht die Wiederinbetriebnahme der Heidekrautbahn-Stammstrecke (mit Wasserstoff-betriebenen Zügen) und den Ausbau der S 25 nach Hennigsdorf mit Verlängerung bis Velten vor. Der „Prignitz-Express“ wird dagegen weiter auf dem Umweg über Spandau statt über Tegel zum Gesundbrunnen fahren; für den Bahnübergang Gorkistraße zeichnet sich keine Lösung ab.
- Der Radverkehrsplan (Stand: September 2021) sieht ein Radverkehrsnetz von 2.371 km vor, davon 865 km im Radvorrangnetz. Der Plan legt sehr ambitionierte Qualitätsstandards mit einem entsprechenden Raumbedarf fest. Das Vorrangnetz soll als erstes ausgebaut werden; das bis 2030 jährlich schnell steigende Ausbau-Tempo ist ebenfalls sehr ambitioniert. Zusätzlich werden Bezirks- und Länder-übergreifende Rad-Schnellrouten geplant.
- Ein Fußverkehrsplan soll bis 2024 vorliegen; er wird ähnliche Qualitäts- und Ausbau-Vorgaben enthalten wie der Radverkehrsplan.
Das Berliner Mobilitätsgesetz ist ein guter und wichtiger verkehrspolitischer Schritt, der die Verkehrswende in unserer Stadt voranbringt. Allerdings müssen Siedlungs- und Verkehrsplanung von Anfang an zusammen und gleichzeitig vorangetrieben werden, und nicht – wie bei der Nachnutzung des Flughafens Tegel – nacheinander. Und natürlich können solche Planungen nicht an der Stadtgrenze halt machen, sondern müssen die gesamte Region in den Blick nehmen. Planungsprozesse brauchen Dialog und Teilhabe; in anderen Großstädten wie z.B. in München werden praktische Lösungen häufiger als bei uns in Modellversuchen gesucht und erprobt. Verkehrspolitik ist in erster Linie Aufgabe und Zuständigkeit der Senatsverwaltung; die Bezirke sind für die Detailplanung des Radwege-Ergänzungsnetzes zuständig und können sich bei der Fortschreibung des Nahverkehrsplans einbringen, z.B. bei der Planung von Buslinien. Qualitätsstandards sind wichtig, sollten aber flexible Lösungen nicht blockieren. In Reinickendorf brauchen wir Radwege auf Straßen mit Kopfsteinpflaster – das wird in Städten wie Erfurt einfacher gelöst als der Berliner Radverkehrsplan es vorgibt. Und der Straßenraum ist an vielen Stellen so eng, dass ein normgerechter Ausbau von Rad- und Fußwegen nur schwer denkbar ist. Für Politik und Verwaltung geht die Arbeit jetzt erst richtig los.
(Alle Verkehrspläne sind auf der Internetseite der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz leicht abrufbar: https://www.berlin.de/sen/uvk/verkehr/ )
Thomas Koch