Wie sich die Sozialdemokratie in die Moderne retten kann
Sozialdemokraten scheinen aus der Mode zu sein. Dabei machen
Globalisierung und Digitalisierung die Arbeitnehmerparteien
unverzichtbar. Aber sie müssen gute Antworten liefern.
Essay von Alexander Hagelüken
Wer die aktuellen Zustimmungswerte der SPD sieht, denkt an das Los eines hässlichen Entleins bei einer Castingshow. Deutschlandtrend: 15 Prozent. Sachsenwahlumfrage: zehn Prozent. Bayernwahl: unter zehn Prozent. Die alte Arbeiterpartei erscheint so unpopulär, als gebe es in Deutschland keine Arbeiter mehr. Und klingt Arbeiterpartei nicht auch nach einer anderen Epoche, nach Kohle, Krupp und Klassenkampf? Vielleicht hat sich die Mission der Sozialdemokraten nach 150 Jahren einfach erledigt in einem Land, in dem nur noch jeder vierte Beschäftigte in der Industrie werkelt – aber drei Viertel in Dienstleistungen. Oder ist die SPD, frei nach dem Rockstar Frank Zappa, doch nicht tot, sondern riecht nur komisch?
Die Bedeutung dieser Frage reicht über das Schicksal der ältesten Partei des Landes hinaus. Sie reicht über das Land hinaus. Anfang der Nullerjahre amtierten in vier der fünf größten EU-Staaten Sozialdemokraten. Heute regiert da genau einer. Die Parti socialiste begeisterte bei den französischen Wahlen gerade noch jeden 16. Wähler. Parteien wie der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“, so nannte sich 1863 die Ursprungszelle der SPD, scheinen aus der Zeit gefallen zu sein.
Auf den ersten Blick wirkt das logisch. In der Industriegesellschaft stützten sich diese Parteien auf eine Schar ähnlicher Wähler mit kollektiven Zielen (mehr Lohn in der Fabrik). Heute gibt es weniger klassische Arbeiter, an Weihnachten schloss im Ruhrpott nach über 180 Jahren die letzte Steinkohlezeche. Auf den zweiten Blick ist die negative Entwicklung schon weniger logisch. Zwar sind heute wenige Berufstätige Arbeiter, aber die meisten sind nach wie vor Arbeitnehmer. Und sie haben nach wie vor ähnliche Ziele wie Wohlstand, akzeptable Berufsbedingungen oder Rente, die im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts ebenso wenig garantiert sind, wie sie dies in der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts waren. Die Arbeitnehmer brauchen in der modernen Zeit nach wie vor Parteien, die ihre Interessen vertreten. Doch offenbar sind sie von den Leistungen der Sozialdemokraten wenig überzeugt.
Die SPD kann die Rolle als stabilisierende Volkspartei kaum noch spielen
Dieses Defizit trifft nicht nur die Arbeitnehmer, sondern ganze Nationen. Neben den linken Volksparteien schrumpfen auch, in geringerem Maße, die konservativen. Damit steht etwa in Deutschland das Modell zweier starker Volksparteien links und rechts auf dem Spiel, das die Bundesrepublik so prosperieren ließ.
Während Staaten wie Italien seit dem Zweiten Weltkrieg ständig wechselnde Koalitionen erleiden, wirtschafteten deutsche Unternehmen unbeschwert im Vertrauen auf Regierungen mit stabiler Mehrheit – was den Erfolg der Bundesrepublik miterklärt. Dieses Vertrauen ist in einem Bundestag gefährdet, in dem inzwischen sechs Parteien sitzen. Umfragegewinner wie der Grünen-Chef Robert Habeck schwärmen zwar von der Auffächerung der politischen Landschaft. Doch wie diese stabile Mehrheiten erschwert, zeigt der 2017 zum zweiten Mal nach 2005 gescheiterte Plan, eine Regierung aus Union, Grünen und FDP zu bilden. Die größte Oppositionskraft stellen mittlerweile die rechtspopulistischen Neinsager der AfD.
Die SPD kann die Rolle als stabilisierende Volkspartei kaum noch spielen, weil sie seit der Wahl von Gerhard Schröder zum Bundeskanzler 1998 zehn Millionen Stimmen verlor. Wahlanalysen zeigen, dass die potenzielle Arbeitnehmer-Partei in den Augen der Bürger nicht mehr eindeutig für irgendwas steht – also auch nicht für die Interessen der Arbeitnehmer. Das lässt sich teils mit dem Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel erklären, ihre Union nach links zu rücken und SPD-Themen zu besetzen. Als Ausrede für den Absturz der Sozialdemokraten wäre es aber zu billig.
Anders als nach der Wahlniederlage 2013 gab die SPD nach dem Desaster von 2017 selbst ein umfassendes Gutachten in Auftrag. Darin fällt der Befund auf, dass die Bürger der Union weit mehr am Arbeitsmarkt zutrauen als der SPD. Dabei war es die SPD, die den Arbeitsmarkt mit der Agenda 2010 durchgreifend reformierte, was Ökonomen für Deutschlands aktuellen Wirtschaftsboom mitverantwortlich machen. Angela Merkel leistete in den 13 Jahren ihrer Kanzlerschaft nichts Vergleichbares. Doch weil die SPD mit den sozialen Verwerfungen der Agenda etwa bei Hartz IV hadert, erntet sie die Lorbeeren nicht. Sie versagt darin, die positiven Wirkungen der Reformen herauszustellen und gleichzeitig eine soziale Flankierung anzubieten.
Im Wahlkampf „rannte sie ihrem Markenkern soziale Gerechtigkeit hinterher, ohne diesen mit einem lebensweltlich relevanten Programm zu untermauern“, so das Gutachten. In der großen Koalition sei sie als „Mitläufer“ wahrgenommen worden, sodass ihr die Wähler Erfolge wie den Mindestlohn gar nicht zurechneten.
All diese Kritikpunkte deuten auf handwerkliche Fehler hin. Und nicht darauf, dass den deutschen Arbeitnehmern egal wäre, ob eine Partei glaubwürdig ihre Interessen vertritt. Die Mission einer oder mehrerer Parteien, die Arbeitnehmer ins Zentrum zu stellen, erscheint in der modernen Wirtschaftswelt überhaupt nicht überholt – sondern so aktuell wie nie.
Derzeit kommen mehrere Entwicklungen zusammen, die den Alltag deutscher Arbeitnehmer durcheinanderbringen wie selten – und politische Antworten verlangen. Die Globalisierung vermittelt vielen Deutschen, dass sie austauschbarer geworden sind. Anders als in der Zeit der weitgehend nationalen Volkswirtschaft können auch Chinesen oder Inder ihre Jobs erledigen. In den vergangenen 20 Jahren nahm dabei die Ungleichheit zu. Die Gewinne stiegen, während viele Löhne stagnierten. Diese Kluft dürfte sich verschärfen, weil mit der Digitalisierung ein immer größerer Teil der Arbeit von Maschinen erledigt wird, die einer Minderheit von Kapitalbesitzern gehören – Beschäftigte müssen um ihren Lohn fürchten.
Globalisierung, Ungleichheit und Digitalisierung sprechen dagegen, dass Arbeitnehmerparteien auf den Müllhaufen der Geschichte gehören. Im Gegenteil. Sie werden unverzichtbar. Aber nur, wenn sie gute Antworten liefern.
Der radikale Linkskurs ist nicht der Königsweg
Als Erstes müssen sie ihre Schutzfunktion wieder ausfüllen. Umfragen zeigen wenig überraschend, dass den meisten Arbeitnehmern ein sicherer Job und ein guter Lohn am wichtigsten sind. Wie viel da politisch zu tun ist, zeigt sich am Anschwellen der Niedriglöhne und dem Trend, dass nur halb so viele deutsche Firmen Tariflohn zahlen wie vor zwanzig Jahren. Nötig wären außerdem höhere Steuern für Reiche, Erben und Firmen, um die breite Masse zu entlasten. Doch die Sozialdemokraten vermögen es bisher nicht, die Arbeitnehmer davon zu überzeugen, dass sie für ihren Anteil am Wirtschaftsboom kämpfen.
Das klingt zunächst so, als sollten sie einen kompromisslosen Linkskurs einschlagen. Aber das wäre nicht der Königsweg zurück zu alter Stärke. Denn viele Bürger misstrauen einer Partei, die den Kuchen nur umverteilen will, ohne ihn auch zu backen. Gerhard Schröder eroberte 1998 die Macht gerade wegen seines Versprechens, das Land zu modernisieren, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen.
Die homogene Arbeitnehmerschaft der Industrieära ist verschwunden, sodass es differenziertere Antworten braucht als nur Umverteilung. Soziologen wie Andreas Reckwitz machen in der heutigen Gesellschaft drei große Gruppen aus. Die alte Mittelklasse der Fabrikwerker und Sachbearbeiter verdient meist noch gut, fühlt sich aber zunehmend in der Defensive. Finanziell unten entstand eine neue Unterklasse, mittelmäßig bis schlecht bezahlt, vom Altenpfleger über die Kassiererin bis zum Paketboten. Und dann gibt es noch eine Dienstleistergruppe, die meist mehr verdient: Akademiker vom Lehrer über die Werberin bis zum Ingenieur, deren Anteil an der Bevölkerung sich vervielfacht hat.
Eine Partei für Arbeitnehmer müsste sehr verschiedenen Gruppen Angebote machen
Mit kollektiven Zielen, die Sozialdemokraten auf einen einfachen Nenner bringen können, ist es da vorbei. Während die alte Mittelklasse ihren Lebensstandard verteidigen will, fühlt sich die neue Unterklasse häufig abgehängt. Und die Akademikergruppe sorgt sich oft weniger um Lebensstandard als um Lebensqualität, etwa um die Vereinbarkeit des Jobs mit der Familie. Sie steht außerdem für eine Offenheit gegenüber Globalisierung oder Migration, die Schlechtverdiener der anderen beiden Gruppen häufiger skeptisch sehen.
Die Kunst einer modernen Arbeitnehmerpartei besteht darin, diesen drei unterschiedlichen Gruppen Angebote zu machen. Also etwa bessere Bezahlung für die neue Unterklasse, aber ohne einen platten Kurs gegen Globalisierung oder Digitalisierung, der die Wirtschaft hemmt. Dieser Balanceakt würde gar nicht so schwer fallen, weil die finanziellen Ungleichheiten so groß sind, dass sich der Kuchen gerechter aufteilen lässt, ohne ihn mit Gewalt zu schrumpfen.
Dabei helfen neue Konzepte, die den alten Gegensatz zwischen Gewinn und Lohn überwinden. Wenn Beschäftigte über Aktien an den Gewinnen der Firmen teilhaben, profitieren alle drei Gruppen – und die Wertschöpfung der Maschinen in der Digitalära fließt nicht nur ins Portemonnaie weniger Kapitalbesitzer.
Was noch? Die Akademikergruppe legt besonderen Wert auf herausragende Bildung. Und die wird für alle Arbeitnehmer wichtig, weil Maschinen immer mehr einfache Jobs erledigen. Wenn eine Partei auch die anderen beiden Gruppen vom Wert einer Qualifikationsoffensive überzeugt, kann sie überall punkten.
Bleibt das besonders strittige Thema Migration. Doch auch hier kann eine Partei den Wert der Offenheit hochhalten und gleichzeitig Skeptikern vermitteln, dass sie abgelehnte Asylbewerber abschieben und sich darum kümmern will, dass wegen der Neuankömmlinge mehr Wohnungen und Kitaplätze entstehen.
Wenn eine Partei Denkschablonen verlässt, kann sie Antworten formulieren, von denen alle drei Gruppen profitieren. Es gibt eindeutig Bedarf, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Schafft das die SPD nicht, können Union oder Grüne die Lücke füllen. Entscheidend ist nicht, wer eine solche Politik fürs 21. Jahrhundert entwickelt. Sondern dass sie bald entsteht, bevor die Arbeitnehmer in der neuen Zeit unter die Räder kommen.
© sueddeutsche.de vom 4.Januar 2019